Vom Kinderheim in Lóczy  zur piklerischen Achtsamkeit 
Gestern bis heute (1967 -2014)
Geneviève Appel

 

Lassen Sie mich zu Beginn dieses Beitrags auf der Website von „Pikler international“ auf die vergangen Jahre zurückkommen und dabei ein bisschen persönlich werden, bevor wir zum Hier und Heute kommen. Ich sehe keine andere Möglichkeit, wie ich sonst verständlich machen kann, warum der andere Blick Emmi Piklers auf das Baby, wie auch die Originalität ihrer „Achtsamkeit“ für mich wichtig wurden und immer noch für zahlreiche Spezialisten und Praktiker des Frühbereiches in aller Welt sind.

 

Im Herbst 1947 war das Ende des 2. Weltkrieges noch nahe, die Wunden, die er geschlagen hatte, waren noch frisch und das Leben, obwohl es sich besserte, war noch immer schwierig. An meiner ersten Stelle öffnete sich mir die ganze Welt eines staatlichen Säuglingsheims im Parent de Rosan in Paris. Jenny Aubry-Roudinesco, eine Krankenhausärztin und Leiterin der Kinderabteilung, der das Heim unterstellt war, bat mich, jene Kinder zu testen, deren Verhalten und Lebensumstände für sie wie auch für mich auffällig waren.

 

Diese Säuglinge, alle zwischen 8 -10 Monate und 3 Jahre alt, hatten vor ihrer Ankunft im Heim schon verschiedene Betreuungsaufenthalte hinter sich und warteten auf die Rückkehr in ihre Familie oder auf andere Lösungen. Mit Ausnahme einiger Neuankömmlinge erinnerten diese Säuglinge an keines der zahlreichen Kleinkinder, zu denen ich engen Kontakt hatte. Beobachtungen und Tests, die manchmal nicht durchgeführt werden konnten, da die Kinder jeglichen Kontakt verweigerten, deckten Rückstände, Diskordanzen und von Monat zu Monat offensichtlichere Schädigungen auf. Ihre materiellen Lebensumstände waren der Zeit entsprechend sicher prekär, die Art wie sie behandelt wurden war, wenn nicht offen brutal, so doch zutiefst misshandelnd. Fiel das niemandem auf? Pflege- und Büropersonal handelten nicht in böser Absicht, sie waren im Gegenteil sogar sehr aufopfernd.

 

Schlussendlich war es haarsträubend. Was war zu tun? Die Anstellung einer Kleinkinderzieherin für die älteren Kinder, die Aufnahme von Praktikantinnen in der Gruppe der Kleinsten, die Perioden individuellen Spielens, die Anschaffung von Material und Spielzeug, alle Massnahmen, die man damals im Repertoire hatte, erwiesen sich als unwirksam. Die allgemeine Stimmung, auch das Verhalten der Kinder, änderte sich zwar, aber es wurde nicht besser. Vielleicht wurde es etwas strukturierter, aber auch fordernder, unbefriedigter und schwieriger zugleich. Einige verloren zwar ihre Apathie, erschienen aber immer noch „untypisch“. Spielzeug wurde zerstört, und die Gewalt unter den Kindern färbte auch auf die Erwachsenen ab.

 

Was ging hier vor? Wir verstanden es nicht. Die konsultierten Kapazitäten antworteten mit „Mangel-Gründen“: Syphilis, Alkoholismus, Geisteskrankheit usw. Die Kinder wurden als „unheilbar“ eingestuft. Uns wurde gesagt, dass wir unsere Zeit vergeuden. Und dennoch – selbst die am schwersten betroffenen Kinder zeigten bei sorgfältiger und zu den verschiedensten Augenblicken gemachten Beobachtungen eine noch immer vorhandene Lebendigkeit!

 

Man kann nicht aufgeben
Publikationen über die Frühe Kindheit vermuten andere Ursachen: die Arbeiten von Sophie Morgenstern, die Doktorarbeit von Françoise Dolto „Psychoanalyse und Kinderheilkunde“, das Buch von Anna Freud und Dorothy Burlingham über die durch den Krieg getrennten Kinder, wie auch einige Monografien von Kinderärzten beschreiben den Zustand der „Stagnation“, den sie bei Säuglingen nach der Trennung von ihren Müttern bei einem Krankenhausaufenthalt beobachtet haben. Alle Arbeiten öffneten den Weg zur Psychosomatik. René Spitz veröffentliche seine Arbeit über die anaklitische Depression und den Hospitalismus. Dank einiger Veröffentlichungen und Alarmrufe erhielt Jenny Aubry-Roudinesco über die CIE Gelder von der Unicef für Forschungsarbeiten, die Dr. Myriam David übertragen wurden. Gleichzeitig bildete sich eine Arbeitsgruppe in London um John Bowlby, namentlich mit James Robertson und Mary Ainsworth. Der Austausch zwischen den beiden Gruppen war Teil des Projektes.

 

Ein neuer Zeitabschnitt beginnt, voller Hoffnung. Er erweist sich als fruchtbar. Myriam David kam aus den USA zurück. Sie bringt eine neue Sicht auf die Schwierigkeiten von Kindern mit, ein in Frankreich noch unbekanntes Wissen über die individuelle Psychotherapie mit Babys und Kleinkindern und Erfahrung mit einem therapeutischen Kindergarten; und sie trug auch zum Verständnis der Funktionsstörungen bei Erwachsenen bei. Eine stille Revolution beginnt in der Institution. Veröffentlichungen und Filme berichten, Studien, die weltweit während über 20 Jahren zur Trennung und zum Beziehungsunterbruch von der Mutter durch den Aufenthalt in einer Institution gemacht wurden, bringen Licht in diese Plage. Sie fördern ein stets zunehmendes Interesse in die Psychologie des kleinen Kindes und des Säuglings.

 

In den 60ern führten Myriam David und ich unsere Forschung im Rahmen eines Säuglingsheimes, das Neugeborene aufnahm, weiter. Sie waren noch nicht BCG geimpft, was vor ihrer Rückkehr zu ihren an Tuberkulose erkrankten Eltern geschah. Die erste Forschungsachse sollte jene Faktoren einkreisen, die den Beziehungsmangel in der Institution beschrieben um ihn zu beheben. Die zweite Achse sollte die Nachwirkungen studieren, die die ersten Wochen des Aufenthaltes im Heim haben. In diesem Sinne wurde den Eltern eine Weiterführung der Studie zuhause vorgeschlagen – vom ersten Tag der Rückkehr an im Alter von 2,5 – 3 Monaten bis zum Alter von 4 Jahren. Die Besuche erfolgten in der ersten Woche täglich, dann halbmonatlich und schliesslich monatlich und ermöglichte es uns, einen Artikel über die das Baby strukturierende Kraft und die Beziehung, die es im Rahmen der gemeinsamen Interaktionen mit der Mutter knüpft, zu schreiben.

 

Das Treffen mit dem Institut Pikler begründet eine zweite fruchtbare Periode, die seit 47 Jahren andauert! Durch die Forschung im Säuglingsheim Amyot lernte ich 1967 Dr. Judit Falk kennen. Es war während eines Fortbildungslehrgangs am Centre international de l’enfance, der für KinderärztInnen aus den Oststaaten, sprich den sozialistischen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, angeboten worden war. Ich hielt damals einen Vortrag über den institutionellen Beziehungsmangel und zeigte den Film „Monique“. In der anschliessenden Diskussion erzählte Judith Falk vom Kinderheim Lóczy in Budapest, das von Dr. Pikler geleitet werde und deren Assistentin sie sei. Sie sagte, dass die Kinder dort nicht diesen Mangel zeigten und brachte solch ungewohnte Elemente in die Debatte ein, dass ich sofort auf sie zuging und sie in das Säuglingsheim Amyot einlud. Während des etwas schwierigen Besuches überraschte sie Malou Klein, die Leiterin, und mich mit ihrem feinen Wissen über Säuglinge und Heimprobleme, was zu dieser Zeit noch selten anzutreffen war. Sie bedrängte – um nicht zu sagen irritierte – uns mit einigen Bemerkungen, wir fanden aber auch gemeinsame Punkte, über die wir uns einig waren. Zum Abschied lud sie uns nach Lόczy ein. 1968 verbachten wir dort drei Tage und lernten Emmi Pikler und ihre Mitarbeiterinnen kennen.

 

Vor der Gründung des Säuglingsheimes hatte Emmi Pikler als Kinderärztin etwa hundert Familien eine „achtsame Pflege“ empfohlen, die auf einem sehr avantgardistischen Blick auf das Baby, seine Entwicklung und seine Bedürfnisse gründete. Sie begleitete Mutter und Kind so nahe am Alltag wie möglich. Die Ergebnisse dieser pädiatrischen Betreuung bestärkte sie in der Richtigkeit ihrer Einsicht. Und es war diese Erfahrung, auf die sie sich stützte, als sie 1946 gebeten wurde, ein Säuglingsheim aufzubauen. Sie brach radikal mit den gängigen Arbeitsweisen und richtete eine Welt ein, die sich räumlich und zeitlich am Kind und den Eltern orientiert und die Aktivität des Kindes in den Mittelpunkt stellt.

 

Malou Klein und ich waren beeindruckt von der guten Gesundheit und der Anmut der Kinder. Wir fanden sie freudestrahlend, aktiv, sie fühlten sich in ihrer Haut wohl und waren sicher in ihren Bewegungen. Im Ganzen eher ernst, zeigten sie authentisches Vergnügen und in ihren Augen stand Zufriedenheit. Zwischen ihnen herrschte ein feiner, erstaunlich spannungsfreier Austausch. Ihr Vertrauen in die Erwachsenen war spürbar, während deren Präsenz, respektvoll und aufmerksam jedem Kind gegenüber, uns sehr berührte. Am Abend des zweiten Tages, während einer Tramfahrt, halb träumend, überraschte ich mich bei dem Gedanken „Ihnen würde ich ein Kind anvertrauen – ja, wenn ich alleine auf der Welt wäre und wüsste, ich würde bald sterben, könnte ich mein Baby diesen Menschen, an diesem Ort anvertrauen.“ Niemals, zu keiner Zeit, war mir je so eine Idee gekommen. Utopie oder Realität? Der dritte und letzte Tag des Besuches liess kein definitives Urteil zu.

 

Wir beide, Malou Klein und ich, waren völlig perplex: zugleich entzückt und gutgläubig. Ging es den Kindern wirklich so gut, wie es den Eindruck machte? Ist das möglich? Oder waren wir einer Illusion aufgesessen?

 

Das Gesehene beschäftigte mich so, dass ich es nicht dabei bewenden lassen konnte. Ich musste wiederkommen mit der Erlaubnis, eine richtige Studie durchzuführen. Dank ihrer Offenheit und auch der ihres Teams wurden Myriam David und ich 1971 von Emmy Pikler erneut empfangen.

 

Während vierzehn Tagen führten wir in jeder Abteilung lange Beobachtungen durch. Zu unterschiedlichen Zeiten, in den Räumen oder im Garten trafen wir die Gruppen, in denen ein Erwachsener mit maximal acht Kindern lebte und in denen jeder seiner eigenen Aufgabe nachging – in aller Ruhe und Geborgenheit, alle in Beziehung untereinander. Soll das heissen, dass es niemals Tränen gab, keine Momente der Anspannung, kein Kind uns Fragen aufgab? Nein. Alleine die schwierigen Momente wurden ruhig in einer Mischung aus Zärtlichkeit und Festigkeit sehr wirksam und schnell gelöst. Zu bedenken ist, dass wir die Sprache nicht verstanden, was uns von den ersten Besuchen an nicht weiter störte, da die Haltung der Erwachsenen, wenn sie sich an die Kinder richteten, in ihren Gesten, ihrer Tonlage sehr explizit waren. Wir meinten jedenfalls zu verstehen. Später würden wir den Inhalt der Gespräche untersuchen müssen und sehen, dass sie sich vom gewöhnlichen Diskurs unterschieden.

 

Die ausführlich redigierten Beobachtungen wurden mit Emmi Pikler und Judith Falk angeschaut und lange diskutiert. Wir verständigten uns auf Englisch. Es begann ein seltsames Abenteuer. Es zeigte sich, dass wir die gleiche Vorstellung vom Kind und dem Leben in der Gruppe hatten. In dieser Beziehung war unsere Kommunikation einfach und auf gegenseitigem Vertrauen begründet. Glücklicherweise, denn das erlaubte uns auch in langen Momenten des totalen Unverständnisses weiter zu machen! Um klar zu sein: Dort, wo wir uns über das Gesehene austauschten, herrschte Freude und Eintracht und sobald wir uns darüber unterhielten, was wir als Grundlage des „Tatbestandes“ dachten, versagte die Kommunikation. Anders gesagt: so lange wir uns in der „Klinik“ bewegten, haben wir uns verstanden und konnten gemeinsam nachdenken, sobald wir aber zu theoretisieren begannen, verloren wir uns. Und, das muss gesagt sein, wir, die besuchenden Französinnen, waren schneller gereizt, als unsere ungarischen Gastgeberinnen, die geduldig und höflich unser Fragen ertrugen!

 

Wir verstanden nicht die Subtilität , die die „freie Bewegung und Eigenaktivität“ begleitete, und schon gar nicht, warum sie dem so ein grosses Gewicht beimassen? Warum wurde es abgelehnt, in das Spiel des Kindes an einzugreifen etwa, um ihm einen Gegenstand vorzuschlagen, in dem man seine Hand hinführt, und sich damit begnügt, den Gegenstand daneben zu legen, zu seiner „freien“ Verfügung? Wir fühlten uns zutiefst unwohl, dass sie nicht mit uns über die Kind/Erwachsenen- und Erwachsenen/Kind-Beziehung sprachen oder nur, wenn es sich zufällig ergab. Für uns war das eine zentrale Frage! Tatsächlich verbirgt sich da ein Missverständnis, das sich Schritt für Schritt auflöste. Für Emmi Pikler und Judit Falk ist diese Beziehung grundlegend im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist ein Punkt, den sie sehr nahe bei jedem Kind verfolgen, aber über den sie offensichtlich nicht sprechen! Das, was dem Kinde die Bewegungsfreiheit gibt und die Eigeninitiative respektiert, ist also das, was Emmi Pikler „entdeckt“ hat und was den originalen Grundgedanken darstellt, auf dem sie die Pflege der Kinder aufbaut. 1971 hat die Einrichtung die verschiedenen Aspekte der achtsamen Pflege noch nicht völlig verstanden, konnte sie noch nicht begrifflich fassen oder zumindest konnten die Mitarbeiter sie nicht formulieren. Nicht ausschliesslich, aber mehrheitlich waren ihre Bezüge pädiatrisch und (reform)pädagogisch, während unsere durch die Psychoanalyse, die genetische Psychologie und die Arbeiten zur Bindungstheorie geprägt waren. Es besteht da keine Antimonie, aber den einen mit den Begriffen des anderen Ansatzes zu formulieren ist nicht einfach. Seither arbeiten viele Menschen an der Begrifflichkeit. Es geht vorwärts, wenn auch langsam, und es ist noch nicht beendet! Zahlreiche Veröffentlichungen zeugen von dieser Arbeit. Am Ende des Aufenthaltes waren wir sicher, nicht Opfer einer Täuschung geworden zu sein. Das Institut Pikler hat es verstandenen, eine Art des Pflegeumgangs und institutionelle Strukturen zu entwickeln, die die im Heim aufgenommenen Kinder vor Beziehungsmangel schützen. Vielleicht nicht alle? Gibt es Perfektion? Der grösste Teil der Kinder schienen unbeschadet und das war gewaltig, verglichen mit dem, was anderswo passierte. Wir wünschten uns diese Erfahrung bekannt zu machen, und diesen Ort, den zu besuchen, kennen zu lernen und darüber zu diskutieren sich lohnt. Wir schrieben das Buch „Lóczy. Mütterliche Betreuung ohne Mutter. (München 1995). Anlässlich eines Symposiums 1996 erwähnte Myriam David die Arbeit in Lóczy und sprach über „die Kunst der Pflege“.

 

Ich selber teilte nach meiner Rückkehr das, was ich verstanden und behalten hatte, mit dem Team der Studentenkrippe, in der ich als Psychologin arbeitete. Dies in der Absicht, dass es uns helfe könnte eine Reihe von Problemen anzugehen, die wir festgestellt hatten, bis anhin aber nur teilweise lösen konnten. Es ist ein offenes Team, dynamisch und dank der früheren Beobachtungsarbeit, sensibilisiert für gewisse Leiden der Kinder auf der Säuglingsgruppe (um ein Jahr alt) und bei den „Mittleren“ (von 14/16 bis 24/28 Monate). Wir machten uns an die Arbeit und – schneller als ich erwartet hatte – stellten wir bei allen Verbesserungen fest, auch bei den Eltern. Sie zeigten sich bei fast jedem einzelnen Kind und das ist es, was zählt. Was die Erwachsenen betrifft, so wurden sie mit ihrer Arbeit zufriedener.

 

Diese positive Erfahrung ermutigte mich einmal mehr mich mit dem Kinder-Sozialdienst auseinanderzusetzen, als man mir die Stelle der Psychologin im Säuglingsheim von Sucy en Brie (Val der Marne) anbot. Ich hatte einen neuen Blick auf das Kind erworben, neue Vorstellungen wie man seine Entwicklung unterstützen müsste und neue „Werkzeuge“ was den institutionellen Rahmen betraf. Die Psychologin und Emmi Pikler Schülerin Agnès Szanto, eine Bewegungsspezialistin, kam zu uns und half uns beim Verständnis und der Umsetzung dieser wichtigen Stossrichtung der achtsamen Pflege Emmi Piklers.

 

So erwiesen sich die zwei Praxiserfahrungen im Alltag vor Ort als sehr bereichernd in dieser Zeit des Austausches mit dem Pikler Institut.

 

Andere Personen werden auf dieser Website Beiträge über die Arbeit des Institutes Pikler schreiben. Ich meinerseits möchte gerne über den Einsatz der „achtsamen Pflege“ nach Pikler und die Lóczy -Betreuung sprechen, von denen ich hoffe, dass sich in den verschiedenen Bereichen der Frühen Kindheit durchsetzen.

 

  1. In direkter Beziehung zu all dem stehen: Die Säuglingsheime
    Wenn die Bilder massiver und katastrophaler Vernachlässigung wie sie in den 40er und 50er Jahren und neuerlich in Rumänien zu sehen waren und von denen ich hoffe, ohne dessen sicher zu sein, dass sie heute verschwunden sind, so besteht der Beziehungsmangel weiter, wenn auch in diskreterer Form. Er ist subtiler, heimtückischer. Nur schwer umkehrbar, bleibt er schädigend für die Entwicklung der Kinder, die dessen Opfer sind.
    Ihn auszurotten erweist sich als schwierig und komplex durch sein häufiges Wiederauftauchen. Dieses Risikos bewusst, haben einige Länder eine Politik des Heimabbaus begonnen, aber das Problem der Kinder, „die von ihren Eltern nicht aufgezogen werden können“, ist damit nicht verschwunden. Einerseits, weil die Unterbringung bei Pflegeeltern, die sich als Alternative anbietet, ebenfalls das Risiko des Beziehungsmangels sowie weiterer schwerer Probleme in sich birgt; es sei denn, sie ist von hervorragendem Niveau. Dem muss mit einer psychologischen Begleitung des Kindes in seinem Leben in „zwei Familien“ begegnet werden; der regelmässigen Unterstützung der Pflegefamilie und der Arbeit mit den Eltern. Dazu wird ein genügend grosses und kompetentes Team von Fachkräften benötigt und somit kann das keine billige Lösung sein, wie oft erwartet. Andererseits bleiben immer noch Kinder übrig, deren Zustand und/oder die familiäre, soziale, behördliche Situation die Unterbringung in einer Institution nötig machen. Für eine überzeugte „Anti-Heim“-Politik ist das die allerletzte Lösung. Sie gilt als schlecht und man will sie ja gerade verhindern. Und so landet man in einem erstaunlichen und schockierenden – um nicht zu sagen skandalösen – Paradox: man holt schwer leidende Kinder aus einer verzwickten Situation heraus – meist notfallmässig – und vertraut sie einer Institution an, die man selber abgewertet hat! Oder wie kann man auf Kinder Erwachsen loslassen, deren Arbeit in solch schlechtem Licht erscheint, dass sie am besten abgeschafft würde? Es ist fruchtbarer, solche Institution – gewiss in beschränkter Anzahl – als weiterhin nötig anzuerkennen, dennoch geeignet auf die Bedürfnisse zu reagieren, die sich aus einem bestimmten Typus familiärer Situationen ergeben, und das Personal – im Rahmen eines entsprechenden pädagogischen Projektes – auszubilden und zu unterstützen. Da findet sich der Nutzen, den die Arbeit des Institutes Pikler zur Pflege und Betreuung der Kinder wie auch die Ausbildung und die notwenige Einbindung des Personals bringt.
    Heute, nachdem das Institut Pikler sechzig Jahre gewirkt hat, indem es Fachleute aus der ganzen Welt empfangen hat, muss es sehen, wie sein Säuglingsheim zugunsten einer Politik der Unterbringung in Familien geschlossen wird. Dies legt uns und besonders der Association Pikler International die Verpflichtung auf, sich nach wie vor für die Säuglingsheime einzusetzen.
  2. Ihnen folgt die Art der Tagesbetreuung: Krippe, Kinderhütedienst
    Im Unterschied zum Säuglingsheim, wo die Kinder ihre Eltern nur zeitweise und zufällig treffen, leben die Kinder, die eine Tagesbetreuung besuchen, in ihrer Familie bei Mutter und Vater oder nur bei einem Elternteil. Diese kommen ihrer vollen Erziehungsverantwortung nach und delegieren lediglich die „Pflege“ ihres Babys an die Betreuungsinstitution während der Zeit ihrer Berufstätigkeit. Diese Säuglinge kennen den Wechsel zwischen zwei Lebensräumen, fünf Tage in der Woche, manchmal bis zu 10 Stunden täglich – um zu sagen, eine Ewigkeit für ein so kleines Kind! Sie treffen dort auf andere „betreuende“ Erwachsene und andere Kinder. Für die Säuglinge haben Krippe und Säuglingsheim gemeinsame Punkte: die Beziehungen zu den Betreuenden und das Zusammenleben in der Gruppe mit ihresgleichen. Was schon genug ist!
    In dem Alter, in dem die Übergabe stattfindet (in Frankreich von drei/vier Monaten bis zu drei Jahren), bedarf das Kind um in Frieden und Sicherheit zu sein, hier und jetzt einer echten interindividuellen – „intersubjektiven“ – Beziehung. In diesem Entwicklungsalter, kann es sich in deren Abwesenheit noch nicht auf seine Beziehung zu seiner Mutter stützen. Es braucht deshalb während der Zeit seiner Betreuung nicht nur eine Ersatzbeziehung sondern eine „Vertretungs“beziehung in der Krippe oder es läuft Gefahr vernachlässig zu werden oder Mini-Gewalt zu erfahren. Hier setzen, nebenbei, alle Überlegungen zur Bezugsperson an, dem einzig möglichen Garant einer erreichbaren Kontinuität für das Baby.
    Zudem, im Gegensatz zu überkommenen Vorstellungen „sozialisiert“ (sich) kein Kind, weil es als Baby in eine Gemeinschaft getaucht wird, wo es auf andere Babys trifft. Der Effekt kann gegensätzlich sein! Alles hängt von den Beziehungen ab, die es zu seinen BetreuerInnen aufgebaut hat, von seiner Selbstwahrnehmung seiner inneren Sicherheit, wie auch von der Art und Weise, wie sein Zusammentreffen mit den anderen Kindern abgesichert ist.
    Zahlreiche Verantwortliche in verschiedenen Institutionen sahen in den Piklerschen/Lóczy Vorschlägen ein Verhalten der Erwachsenen und konkrete Lösungen um die Qualität ihrer Tagesstätte für die ganz Kleinen zu verbessern. Seit vierzig Jahren wird fortgesetzt in Europa, den USA und in Lateinamerika an der Auseinandersetzung, der Anwendung und Anpassung gearbeitet zwecks Aneignung durch die Teams. Dies reicht u.a. von der Einrichtung, die den Bedürfnissen der Kinder Rechnung trägt, bis zu einer veränderten Zusammenarbeit mit den Eltern.
    2006 hat das Institut Pikler eine eigene Krippe an der Lóczy -Strasse eröffnet. Das Personal, das vom Heim kam, machte sich an die nötigen Übergänge und nahm auch Besucher im Rahmen der Fortbildung auf. Ein vielversprechender Austausch findet statt und entwickelt sich weiter.
    Der neue Film Von Bernard Martino legt von der Betreuung der Kinder in dieser Krippe Zeugnis ab: „Lóczy , eine Schule der Zivilisation“.
  3. – und was die „Piklersche achtsame Pflege“ betrifft: Das Kind in der Familie
    Die Unterschiede in der Tradition der Pflege und Erziehung von Babys und Kleinstkindern zeigen, mit welch einer Entwicklungskraft und Anpassungsfähigkeit diese ausgestattet sind. Kraft und Fähigkeit, die ihnen, wenn ihre affektiven und emotionalen Bedürfnisse gedeckt sind, erlauben, an dem Teil zu haben, was ihnen die Eltern als Öffnung in die Welt bieten und sich zu entwickeln. Auf der Basis einer mehr oder minder homogenen Kultur baut jede Mutter-Kind Dyade eine Beziehung auf, die einzigartig ist, wie sich auch jede Vater-Kind Dyade als erzieherisches Einverständnis innerhalb des Paares bildet. Daher rühren unter anderem unsere unendlichen individuellen Unterschiede. Aus ihrer Erfahrung als Kinderärztin konnte Emmi Pikler feststellen, dass die beziehungsmässigen und materiellen Auswirkungen, die sie für die Pflege aus der urspünglichen Beobachtung zog, den Kinder erlaubte, sich ruhig und friedlich zu entwickeln, was wiederum die Mütter selbstsicher und zufrieden machte. Was hier geschieht, verdient unsere Aufmerksamkeit.
    Entsprechend schlagen das Pikler Institut wie auch verschiedene Teams in Deutschland, Österreich und Frankreich Baby-Mutter- oder Baby-Eltern-Gruppen vor. Dort werden die Kinder in einem Rahmen betreut, der ihrer Entwicklung entspricht und wo sie frei sind, sich nach Belieben zu bewegen. Sie sind von ihren Müttern, Vätern begleitet. Diese sind aufgefordert, sie aus der Distanz zu beobachten und nur auf Aufforderung ihres Kindes einzugreifen oder wenn sie selber es für nötig halten. In einer ruhigen und herzlichen Atmosphäre begleiten ein oder zwei Betreuerinnen den Gang der Gruppe und tauschen sich mit den Eltern den Umständen entsprechend während oder nach der Sitzung aus.
    In unserer modernen westlichen Gesellschaft werden zunehmend junge Paare Eltern ohne vorgängige Erfahrung mit Säuglingen und ohne Begleitung durch nahe Angehörige. Die Begegnungsorte bringen ihnen Unterstützung, in dem sie Antworten auf ihre Fragen erhalten. Sie funktionieren in etwa wie die kinderpsychologischen Beratungsstellen. In Frankreich öffnete, mit einem etwas anderen Konzept, das erste von Françoise Dolto gegründete Maison Verte. Auch dies ebnete den Weg zu dieser Art mit Eltern zu arbeiten. Auch da verspricht der fachliche Austausch auf internationalem Niveau Fortschritte.
    Bleiben noch die anderen Arbeitsfelder wie Tagesbetreuung bei der Familienhelferinnen, Familienplatzierung, Arbeit mit behinderten Kindern und Aufenthalte im Krankenhaus, die ich aber zu wenig kenne um mich zu äussern. Ich überlasse es jenen, die dort arbeiten und sich mit den Beiträgen des Institutes Pikler auseinandersetzen, uns zu informieren.
    Stichworte zur Geschichte zum Abschluss Emmi Pikler war Ungarin und das Institut wurde in Budapest gegründet. Von 1945 bis 1989 arbeitete das Institut hinter dem „Eisernen Vorhang“, so dass alle Artikel, die sie und ihre Mitarbeiterinnen schrieben, wie auch das Archiv in ungarischer Sprache verfasst sind. Eine wenig verbreitete und zugängliche Sprache! Dies bewirkte eine doppelte Isolation, die die Verbreitung der Ideen behinderte! Wären Emmi Pikler und ihre NachfolgerInnen aus einem angelsächsischen Land gekommen, hätte sich die Bedeutung ihre Arbeit schneller verbreitet. Diese Anerkennung findet jetzt statt. Interessanterweise erfolgt sie nicht in homogener Art und Weise. Da mehrsprachig haben die Institutsmitglieder grosszügig die Anfragen vom einen und anderen beantwortet. In einigen Ländern war man hauptsächlich an der Arbeit in Kindergruppen interessiert, in andern an der Arbeit mit Eltern, wieder andere an den Überlegungen zu Kindern mit besonderen Bedürfnissen usw. Die konkrete und klinische Aneignung der Piklerschen Ideen zur achtsamen Pflege und der Lóczy Betreuung erfolgt so in einer etwas anarchischen Form.
    Erst kürzlich fand Emmi Pikler Eingang in die Psychologischen Fakultäten. Das Nachdenken über das, was die Forschung des Institutes zum Verständnis der aller ersten Entwicklungsschritte des Menschen beigetragen hat, intensiviert sich. Welche neuen Wege öffnen sich, welche Aussagen kann man aufgrund der bestehenden Theorien machen? Mein Wunsch wäre es, dass die Verbindungen, die sich auf internationaler Ebene knüpfen, die Arbeiten bereichern sowohl in den verschiedenen Anwendungsbereichen wie auch auf wissenschaftlicher und theoretischer Ebene.